Der Prozess

Um uns mit dem Thema „Der Prozess“ zu befassen, entschieden wir uns für die Transkription eines Auszugs aus dem Buch „Die Feinde des Landesinneren“ von Nathalie Roussarie Sicard – Doktorin der Geschichte. Ihre Arbeit über die Unterdrückung in Corrèze ist eine Referenz. Das Buch basiert nicht nur auf regionalen und nationalen Archiven, sondern auch auf Artikel der lokalen Presse und auf Zeugnissen. Es bietet eine detaillierte Studie und ist angereichert mit Porträts der Hauptakteure. Diese haben die Geschichte dieser Region ohne Scheu in eine breitere Perspektive gerückt. Ohne zu urteilen versucht Nathalie Roussarie Sicard, die Unsicherheiten und Komplexitäten dieser Zeit aufzulösen und die Folgen zu analysieren: eine Geschichte, die mit Trauer, Gewalt und Ressentiments gespickt ist.

DIE SORGE UM GERECHTIGKEIT

Im Fall von Tulle wurde der Gerechtigkeit nicht Genüge getan. Andererseits diente das Drama von Oradour, einen Tag nach dem von Tulle und die enormen Auswirkungen des begangenen Massakers, als Leinwand für das Drama von Corrèze. Die Gemeinsamkeiten der beiden Nazi-Missbräuche hätten berücksichtigt werden sollen. Die Vorfälle könnten das nationale Gedächtnis näher bringen. Obwohl es verlockend ist, die beiden Gräueltaten zu vergleichen, gibt es doch bemerkenswerte Unterschiede. Der Fall Tulle ist, wie wir gesehen haben, viel komplexer: Es dauert zweifellos sehr lange, die Fragen zu untersuchen, die Antoine Soulier von Anfang an stellt. Das Ungesagte muss entschlüsselt werden. Es gilt alle Fallen zu entschärfen, an die sich die Pariser Leidenschaften nach und nach gewöhnten. Die Tullisten danken für die lange Geduld der Arbeit der Historiker.

Wie im gesamten Limousin spielte auch in Corrèze der Widerstand eine wichtige Rolle und der ganz natürliche Wunsch, die Schuldigen zu bestrafen. Aber wer waren die Schuldigen? Wie wurden sie strafrechtlich verfolgt und was war ihre Strafe? Antoine Soulier oder Jacques Delarue, Paul Mons und mit ihnen weitere Journalisten erwähnten die verschiedenen Prozesse. Der Prozess von Tulle brachte aber nicht viel Tinte zum Fließen und blieb eher sehr diskret.

Proces de Tulle 1951

Es gibt mehrere Prozesse: Der erste, der ziemlich schnell stattfand, ist der der Mörder der 18 Gleiswächter. Es handelte sich um ein Kriegsverbrechen: Die Gleiswächter wurden ohne Grund abgeschossen. Die Mitgliedschaft im Maquis versetzte nicht in die Lage ihnen Vorwürfe zu machen. Sie wurden von der Stadtverwaltung im Einvernehmen mit der Besatzungsmacht von der Behörde zum Bürgerdienst „verpflichtet“. Bezüglich der 10 deutschen Soldaten der dritten Kompanie des 95. Sicherheitsregiments, die die Gleiswächter erschossen haben, werden Hauptmann Reichmann, Leutnant Retzer und Adjutant Schlewski zu Haftstrafen von 15, 10 bzw. 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Drei weitere Soldaten wurden für schuldig befunden, aber freigesprochen. Vier weitere Soldaten und Unteroffiziere wurden ebenfalls freigesprochen. Die Tullisten protestierten gegen diese besonders milden Urteile, doch sie fanden kaum Gehör.

Zwei Jahre später, am 6. Juni 1951, wurde der Prozess in Bordeaux eröffnet, um die Verantwortlichen für die Hinrichtungen in Tulle zu bestrafen. Die darauffolgende Enttäuschung war noch größer. Hoff wird beschuldigt, die Hinrichtungen organisiert zu haben. Wenn Walter Schmald (gestorben, ohne vor Gericht gestellt worden zu sein) tatsächlich die Sortierung leitete, geschah dies auf Befehl von Kowatsch. Paulette Geissler hätte 17 Ingenieure von MAT (Manufacture d’Armes de Tulle) als „unverzichtbar“ vor der Sortierung „gerettet“, sie hatte jedoch den Ingenieur Cazin benannt. Über die Anhörung französischer Zeugen liefern uns weder die Geschichtsschreibung noch die untersuchten Quellen viele Informationen. Antoine Soulier sagt natürlich aus. Er beantwortet die, wie er manchmal bemerkt, die eher verwirrten Fragen des Präsidenten. Der Präfekt Trouillé ist nicht da, der Generalsekretär der Präfektur, Maurice Roche, krank und ebenfalls abwesend. Der Tulle-Prozess verlief sehr diskret: Er schien niemanden zu interessieren und wurde schnell abgewiesen.

Dem Prozess wurde noch nie ein Buch gewidmet. General Lammerding, Hauptmann Kowatsch, Bataillonskommandeur Heinrich Wulf und Adjutant Otto Hoff werden Mittäterschaft und vorsätzlicher Tötung als Vergeltungsmaßnahme vorgeworfen. Lammerding und Kowatsch werden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Gefangenen Wulf und Hoff wurden zu zehn Jahren Zwangsarbeit bzw. lebenslanger Haft verurteilt. Paulette Geissler, die auf freiem Fuß war, wurde zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, weil sie es unterlassen hatte, einer Person in Gefahr zu helfen. Nur Hoff legt Berufung ein. Doch nach dieser Berufung beim Kassationsgericht, wo der Prozess am 27. Mai 1952 in Marseille wegen formeller Mängel eingestellt wurde („Der Vorsitz des Militärgerichts war unregelmäßig und es lag eine Verletzung der in der Klageschrift genannten Texte vor“). Nur Hoff erschien und wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Wulf wurde in der Woche zuvor unverständlicherweise freigelassen und kehrte nach Deutschland zurück. Die Hauptakteure sind tot oder auf der Flucht. Die zu milden Strafen verurteilten Täter, die allgemeine Gleichgültigkeit, mit der dieser Prozess stattfand, all diese Elemente haben die Bewohner der Stadt und noch mehr die Familien der Opfer ebenso stark geprägt, wie das Ereignis selbst.

« Tulle kann seine Toten nur schweigend betrauern. »

Doch ein Jahr später beginnt der große Oradour-Prozess. Es wird erneut über Tulle gesprochen. Im Zusammenhang mit Lammerding reden wir eigentlich nicht mehr darüber. Während des Oradour-Prozesses erfuhren wir plötzlich und nicht ohne Erstaunen, dass er tatsächlich lebte. Gegen Lammerding lagen seit Kriegsende mehrere Haftbefehle vor. Aber er ist dank der Teilung Deutschlands geschützt. Im Januar 1953 verließ er sein Zuhause in Düsseldorf (Britische Zone) und ging nach München (Amerikanische Zone), um mit seinem Anwalt „die weitere Behandlung des Falles“ zu besprechen. Ab 1954 konnte er sich sicher fühlen, da er unter das Souveränitätsrecht der Bundesrepublik Deutschland fiel und nicht ausgeliefert werden konnte. Zu Tulle wie auch zu Oradour hat Lammerding nichts zu sagen. Er ist nicht anwesend, er ist nicht schuldig, seine Befehle wurden von seinen Untergebenen außer Kraft gesetzt. Er ist das Opfer von Verleumdungen. Er lebt in Ruhe in Düsseldorf. Mehrere Jahre versuchen die Tullisten seine Auslieferung zu erreichen. Am 29. November 1958 fand in Tulle eine große Demonstration statt. Es gelang den Menschen an die persönliche Telefonnummer der Familie Lammerding zu gelangen. Sie setzten der Familie Lammerding mehrere Monate lang telefonischen Belästigungen aus. Doch weder persönliche Ansätze, noch behördliche Interventionen haben Erfolg. Lammerding starb am 21. Januar 1971 – nach Angaben seiner Frau –  als Opfer der unfairen Schikanen, denen er ausgesetzt war. Er ist auf einem Düsseldorfer Friedhof mit Ehrungen, Kränzen, Reden und Hakenkreuzen begraben. Diese Beerdigungen wurden von einem Verein ehemaliger SS-Mitglieder organisiert.

Die Ironie dieser Geschichte: Nach der deutsch-französischen Einigung vom 2. Februar 1971 zur Auslieferungsproblematik hätte Lammerding auf der Liste gestanden. Wir sehen, dass die ganze Geschichte in Corrèze tiefe Spuren hinterlassen hat.

paula Geissler 1